30 000 Peaks pro Minute. Abstiegsangst und Kreativität als letzte Ressource der Mittelklasse

»Yes!« Es ist Nacht, aber immer noch schwül. Ich stehe auf einem Parkplatz, dessen Ränder ich nur erahnen kann, eine hellgelbe Duvetica-Daunenjacke um die Hüfte geknotet. Ihr Besitzer steht mit nacktem Oberkörper vor mir, und ich filme ihn mit seinem iPhone. Auf dem Retina-Display ist das Flimmern der Luft über etwa zwanzig aufgeschütteten Reihen brennender Kohlen zu erkennen. Hinter uns stehen Hunderte im Dunkeln Schlange, gespannte Erwartung in den Gesichtern, leises Wippen zu den Rhythmen einer Djembe-Combo. Als hätte man die Startzone des Berlin-Marathons in das Filmset von Escape from New York verlegt. Über Lautsprecher tönt eine sonore Bassstimme: »Wir fühlen die Angst! Wir lieben das Feuer! Wir machen den ersten Schritt! Sagt ja! Sagt ja! Sagt ja zum Feuer! Wir stellen uns vor, wir laufen auf kühlem Moos!« Einige der Anstehenden skandieren: »Kühles Moos, kühles Moos, kühles Moos!« Neben mir schießt ein Pärchen auf Kunstrasen kniend Glut-Selfies.

(Der Essay ist im Oktoberheft 2019, Merkur # 845, erschienen.)

Der Jackenbesitzer wendet sich zu mir um, zieht für die Kamera mit einer Pumpbewegung beide Fäuste auf Hüfthöhe zu sich heran und geht dann mit großen Schritten mehrere Meter barfuß über die Glut. Bei jedem Schritt stößt er ein »Yes« hervor. Helfer warten am anderen Ende mit seinen Nike-Turnschuhen und Söcklingen. Angekommen geht er ein wenig in die Knie, breitet die Arme aus und schreit laut in den Nachthimmel. Jubel in der Schlange, etwas entfernt beglückwünscht ihn ein anderer Helfer durch sein Megafon. An der Seite stehen die Feuerwehrleute des Chicago Fire Department mit unbewegten Gesichtern. Raj, so der Name des Jackenbesitzers, programmiert Animationen für Warner Brothers. Ich kenne ihn seit etwa zwei Minuten. »So lit, man!«, er läuft neben der Kohlenbahn zurück, haut mir auf die Schulter, ich boxe in seinen beeindruckend harten Bauch. Dann streift er sich ein T-Shirt über, auf dem zwischen auflodernden AC /DC-Flammen »Firewalker« steht, sagt »Bye« und geht in Richtung der fernen Lichter der Stadt davon.

Dann bin ich an der Reihe. Ein Mitarbeiter mit einem riesigen Schild in Pfeilform, das ihn als Buddy ausweist, nimmt mir die Schuhe ab. Ein anderer mit Sonnenbrille und Bandanas über Mund und Haaren bringt neue Kohlen mit einer Schubkarre. Als ich barfuß vor der glühenden Spur stehe, fadet gerade aus den Lautsprechern Like Lions in the Wild von Martin Garrix in den Rhythmus der Djembe-Band. Der Buddy kommt sehr nahe von hinten an mich heran und fragt in US-Marine-Ausbilder-Lautstärke direkt in mein Ohr, ob ich die Angst spüre, ob ich sie auch wirklich spüre. Ich schreie, sicherheitshalber auf Deutsch, zurück, dass Asche ein schlechter Temperaturleiter ist und deshalb die Wahrscheinlichkeit einer Verbrennung gering. Das habe ich vorher im Netz recherchiert. Ich sehe nach rechts und links, neben mir der gleiche Selbstüberwindungsmoment in Serie. Am Ende wartet ein Shirt auf uns, das es im Merchandising-Shop nicht zu kaufen gibt.

Zwölf Stunden zuvor hätte ich eine Daunenjacke bitter nötig gehabt – Europäer in den USA erkennt man im Sommer ja meist an ihrer leichten Bekleidung in Innenräumen. Ich sitze also etwas zittrig unter dem Dach des United Center Chicago, der Videowürfel an der Hallendecke blendet sonst die Zeitlupen der Bulls und Hawks ein, heute explodiert hier im Minutentakt das Motto des Wochenendes: »Unleash the power within«. Dazwischen liefert eine Kameradrohne an einem ferngesteuerten Fesselballon Bilder aus der Halle. Auf dem Spielfeld wurde Teppichboden ausgelegt, darauf sind Stuhlreihen gestellt. Menschen nehmen ihre Plätze ein, oder sie stehen und tanzen zu einer krachledernen frat-party-Playlist des vielleicht irgendwo im Bühnenraum verborgenen DJ. Es müssen etwa Dreißigtausend sein, so viele Zuschauer fasst die Halle, und sie ist nahezu voll besetzt. Warten auf Tony.

Er ist seit 1983 Buchautor und Motivationstrainer, Inhaber eines milliardenschweren Coachingkonzerns mit Firmen wie Robbins Research International, Robbins Success Systems, Destiny Financial Services, Fortune Practice Management, Tony Robbins Productions und Robbins Namala Plantation Resort. Mit »hochmodernen Technologien für menschliches Gefühls- und Verhaltensmanagement«, wie es im Weltbestseller Awaken the Giant Within heißt, sollen Firmen und Individuen zu mehr Kreativität und Leistungsfähigkeit angeleitet werden:[1. Anthony Robbins, Awaken the Giant Within. How to take immediate control of your mental, emotional, physical & financial destiny! New York: Simon & Schuster 1991 (Übersetzungen jeweils SR).] »Die Geheimnisse der Entwicklung kreativen Denkens gehören nicht nur Dichtern und Malern. Jeder kann etwas unternehmen, um seine Kreativität zu vergrößern und sogar die härtesten Geschäftsprobleme zu lösen. Der richtige Zeitpunkt ist jetzt.«[2. Anthony Robbins, How to improve creativity (www.tonyrobbins.com/business/improve-creativity/).] IBM, AT & T, American Express, die US-Armee sowie die Mannschaften der LA Dodgers und nicht zuletzt Pitbull gehören zu Robbins’ Kunden. Mit Selbsttechniken für Kreativität, persönliches Wachstum und viele Businesserfolge füllen die Seminarformate »Unleash the Power Within«, »Date with Destiny« und »Business Mastery« in den Vereinigten Staaten, Asien und Europa mehrmals im Jahr Sport- und Kongresshallen mit mehreren Zehntausend Zuhörern. Es ist diese Verbindung aus Spektakel, Selbsttechnik und dem, was Andreas Reckwitz das »Kreativitätsdispositiv« nennt, die mich interessiert.[3. Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin: Suhrkamp 2012.]

Klangkarussell: Sonnentanz
Empire of the Sun: We Are the People (Flicflac Remix)
Changa: Pnau

Einige der allgegenwärtigen unbezahlten Freiwilligen in schwarzen T-Shirts mit dem Aufdruck Our work changes lives initiieren eine La Ola, und sie brandet mit einem langgezogenen »Whooooo« über die Ränge. Andere beginnen auf dem Parkett einen Formationstanz und reißen die Umsitzenden zum Mitmachen von den Stühlen. Spontaneitätsversuche. Rhythmisches Klatschen mit Albatrosflügelschlägen über dem Kopf. Das in diesem Sommer unvermeidliche Despacito. Bei Sean Pauls Get Busy steht eine ältere Frau mit kurzen blonden Haaren in meinem Block weiter vorne auf und springt auf und ab, bis ihr Begleiter sie festhält, wohl aus Angst, sie könne über die Brüstung fallen. Man kommt langsam in ein unangenehm beduseltes Ausnahmezustandsgefühl, immerhin ist es erst zehn Uhr vormittags und die Musik tendiert gegen drei Uhr nachts. Aber ohnehin erinnert der casual-Friday-Look der meisten Teilnehmenden daran, dass jeder Exzess dieses Wochenendes Arbeit ist, und zwar Arbeit am Selbst.

Daddy Yankee: Zum Zum
RedOne & Daddy Yankee: Boom Boom
Vengaboys: Boom, Boom, Boom, Boom!!

Dann ist er endlich da. Explosionen und hochschießende Flammen an den Bühnenrändern. Die Musik setzt wieder ein, er klatscht im Takt des Songs auf die männlichste Art, die ich jemals gesehen habe: Nur die Handballen der Hände berühren sich und prallen sofort voneinander ab. An ihm ist alles zu groß: Er misst an die 2,10 Meter und hat ein Kreuz wie Bruce Banner in einem späten Zwischenstadium seiner Transformation. Angeblich die Folge einer Wachstumsstörung. Während des Sprechens tigert er von links nach rechts, als wären die 100 Quadratmeter der Bühne noch zu klein. Bassstimme. Ein Megakiefer. Alle brüllen, eine Frau neben mir hebt beide Hände zum high five, wir kippen fast vornüber bei dem Versuch, uns zu erreichen, und landen in einer Art Abstützfigur mit ineinander geklammerten Fingern.

Der DJ lässt David Guettas Play Hard los, wir werden zum Tanzen aufgefordert oder vielmehr zu einer Art Fitnesseinheit. Man streckt die Hände nach oben und dann wird gehüpft, mit einem Lächeln, das unseren Enthusiasmus, aber bei vielen von uns auch das Bemühen darum verrät. Tony zaubert zwei Holzstöcke aus einer Art Regenschirmständer am Rand der Bühne hervor und prügelt sie im Takt gegeneinander. Wahrscheinlich zur Schonung seiner Handballen. Zum Schluss breitet er die Arme aus, geht in die Knie und lässt jenen Urschrei los, den später Raj beim firewalk imitieren wird. Dann lockern wir uns ein wenig auf, indem wir unseren Nebenleuten eine sogenannte body-jolt-Massage verabreichen. Beyoncé, End of Time. Rachel, meine High-Five-Partnerin von vorhin, kichert nervös, als ich sie massiere. Sie arbeitet im mittleren Management für einen Finanzdienstleister in San Fernando Valley und hat sich mir als »Rachel from the valley« vorgestellt. Wir tauschen zu Flo Rida, Right Round, ein Song, zu dem man nicht unbedingt massiert werden muss. Am Ende klatschen wir uns wieder ab, um die Ambivalenz der Situation auszuräumen. Dann dreht der DJ die schon verklungen geglaubten Klänge noch einmal auf, und ich muss Steve, meinem Nachbarn auf der anderen Seite, einem Möbelhausbesitzer aus Wisconsin, Tanzbewegungen vorgeben. Cheerleader moves, Milli-Vanilli-Gummiknie. Es fühlt sich unglaublich an, und wir sagen uns das.

Ich verbringe vier Tage lang je etwa zwölf Stunden im United Center. Ich springe in meiner Sitzreihe unter dem Hallendach etwa alle halbe Stunde zu den Hits der Achtziger, Neunziger und dem Besten von heute auf und ab, wobei mir immerhin warm wird. Ich schreibe mich in einem Programm zur Erlangung finanzieller Unabhängigkeit ein, um an die damit verbundene Baseballmütze zu gelangen. Ich gebe zum Glück eine fiktive Kreditkarte als Zahlungsmittel an, sonst wäre ich heute finanziell abhängiger denn je. Ich schreie mit allen anderen »Aye!« und hebe die rechte Hand, wenn Tony fragt, ob wir wissen, wovon er spricht. Ich denke nur ganz kurz an einen anderen Sportpalast. Ich schreibe meine Ziele in ein Arbeitsringbuch und spreche mit zwei Trump-Wählern und Angelfreaks über meine tiefsten Ängste. Ich höre Vorträge über gesunde Ernährung und ernähre mich wie alle anderen von den Fastfood-Ständen im Foodcourt. Ich höre höchst imitationswürdige Lebensgeschichten von 89-jährigen Triathlon-Rekordhalterinnen, von Universitäts-Lacrosse-Spielerinnen, die ihr Leben dem Bohren afrikanischer Brunnen gewidmet und weinenden mittelständischen Unternehmern, die nach der Finanzkrise zurück in die Spur gefunden haben. Ich gehe am Morgen meines Rückflugs im Garfield Park Joggen und reiße mir den linken Meniskus.

(…)