• Der blinde Fleck. Weimar und seine Peripherie

    Am nördlichen Ende der Belvederer Allee liegt ein verwilderter Friedhof. Das Gras steht kniehoch. Vom Frühling bis tief in den Herbst hinein ist alles schreckendurchwuselt: Thettigonia viridissima, die ich sofort erkenne, und Chorthippi, die der Laie meist nicht exakt bestimmen kann, umspringen die Grabsteine. Einige Inschriften kann ich mühselig entziffern. „Gawril Alexejewitsch Frolow, 1911 bis 1946.“ „Iwan Ruibin, 1918 bis 1945.“ Auf anderen prangen nur noch beschädigte Fotografien. Die Witterung hat die Namen aus dem Stein gewaschen. (mehr …)
  • Kommt jetzt der globale Babeuf?

    Parallel zur virologischen und politberatenden (Was ist das und was können wir tun?) tobt derzeit eine politphilosophische Schlacht um die Zukunft der Welt. Da gibt es zwei Konflikte: Einmal den zwischen Kontraktionisten und Expansionistinnen um die Frage, ob die Globalisierung jetzt zurückgenommen (Claus Leggewie), wiederhergestellt (Ulrike Hermann) oder angetrieben wird, indem sie nun politische Strukturen bekommt. Zweitens wird über den Charakter der Nach-Corona-Politik gestritten: Ist der (Neo)Liberalismus am Ende (Heinz Bude), kommt jetzt eine autoritäre Welle (Giorgio Agamben, Naomi Klein, Groupe Tiqqun, Richard Sennett, Rene Schlott) oder doch noch der Kommunismus (Slavoj Žižek)? Beide Fragen gehören zusammen, weil sie den Ort (national, supranational, transnational oder global) und die Idee politischer Gemeinschaften verhandeln (liberal, sozialistisch, faschistisch, ökologistisch), sie sich also fragen, welches politische Gebilde aus der Corona-Situation hervorgeht, welchen Umfang es nach außen und innen annimmt und wie es die Bevölkerungsinteraktionen kontrolliert. Es geht also darum, wie das Material (die Gesellschaft) in eine Form (ihre Organisation) gebracht wird und welche Form dieser Form (der Ort) die richtige ist.

    Ort: Kontraktion und Expansion

    Was fehlt, ist eine Zusammenführung der widerstreitenden Positionen, denn wahrscheinlich haben, wie so oft, beide Seiten recht und unrecht zugleich: Die Kontraktionisten, weil tatsächlich erst einmal Grenzen geschlossen werden und sich die Nationalstaaten um sich selbst kümmern (vielleicht sogar ihre eigenen Staatsbürgerinnen in den Krankenhäusern bevorzugt behandeln werden); weil der Welthandel zurückgeht und die Börsen einbrechen; weil globale Lieferketten unterbrochen werden, die wahrscheinlich etwas regionaler als zuvor wieder aufgebaut werden; und weil Firmenpleiten anstehen und die Arbeitslosigkeit steigt, was den protektionistischen Druck auf die Regierungen erhöhen dürfte. Aber auch die Expansionistinnen haben recht, weil alle weltweit über das Gleiche diskutieren (es also eine globale Öffentlichkeit gibt), fieberhaft an einem Gegenmittel forschen und weil nun Stimmen lauter werden dürften, die der Weltgesellschaft einen staatlichen Überbau verpassen wollen, der zunächst einmal europäisch ausfallen dürfte (gerade dass Europa derzeit handlungsunfähig ist, könnte es künftig stärken, weil Krisenressourcen zentral besser mobilisierbar sind; was aber nicht heißt, dass es als liberales Projekt fortgesetzt werden muss, wahrscheinlicher ist eine Gesundheitsfestung Europa, denn Grenzen sind jetzt sehr gefragt). Wie kann das sein, dass beide Seiten recht haben, obwohl sie einander zu widersprechen scheinen? Die Globalisierung ist, und daran hält Maurizio Ferraris noch in seiner Turiner Corona-Isolation fest, unser „Schicksal“. Das mag schon sein, aber sie ist eines, das sich manchmal gegen sich selbst kehrt. Denn die Globalisierung meint nicht nur sich selbst, sie enthält zugleich ihr eigenes Gegenteil, die Deglobalisierung, die ihr wie ein Schatten durch die Geschichte folgt (was aber auch heißt, dass die Rücknahme ebenfalls wieder zurückgenommen wird, weshalb die Expansionistinnen doch wieder recht haben, aber auf andere, verschlungenere Weise als es ihnen vorschwebt). Schon ein flüchtigen Blick auf die Geschichte der Globalisierung (und der Formgenese ihrer Subjekte) zeigt, dass diese stets zwischen Expansion und Kontraktion oszillierte, Dass sie jetzt unterbrochen, aber (lesen ...)
  • „Meinungsfreiheit“: Zur Veröffentlichung der Memoiren von Woody Allen

    ⁸Wenn ein Verlag beschließt, ein Buch nicht zu drucken, aus was für Gründen auch immer, dann ist das keine Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern das gute Recht eines Verlages, in seinem Programm von seinem Geld die Bücher drucken zu lassen, die er drucken lassen möchte. Sonst könnten ja alle diejenigen, deren Manuskripte abgelehnt werden, von Zensur reden und ihr Recht auf Meinungsfreiheit einklagen. (mehr …)
  • Streik!

    Seit Donnerstag, 28. Februar,  wird wieder gestreikt. Vierzehn Tage lang, verteilt über vier Wochen, legen Universitätsangestellte der Gewerkschaft UCU an 74 schottischen, englischen, walisischen und nordirischen Universitäten die Arbeit nieder. Das sind mehr als die Hälfte aller britischen Unis. Die Streikenden arbeiten in der Lehre, in der Forschung, in Bibliotheken, Verwaltungen, Serviceeinrichtungen. Es ist der größte Streik in der Geschichte der britischen Hochschulen.  (mehr …)