Die Rückkehr des Königs. Das Subjekt in der apollinischen Postmoderne
Zu den wichtigsten Fragen der bürgerlichen Gesellschaft gehört, was nach ihr kommt: Denkbar sind zum Beispiel proletarische oder klassenlose Formationen oder der archaische Zerfall in Banden. Es wird jedoch zunehmend deutlich, dass wir auf etwas anderes zusteuern: auf eine Gesellschaft der Könige, die jenes Herrschaftsprinzip wiederherstellt, das die bürgerliche Gesellschaft einst überwunden hatte. Erzwungen wird dies von Entwicklungen der Technik und vom Druck der Umwelt, also durch Verschiebungen im Mensch-Natur-Verhältnis. Sie verlangen einen neuen Menschen, der nicht mehr viel zu tun hat mit dem markterobernden, frei zirkulierenden und auch ein wenig rücksichtslosen Subjekt der vergangenen Epoche.
(Dieser Text ist im Oktoberheft 2022, Merkur # 881, erschienen.)
Angefangen hat alles damit, dass mit Erfindung des Personal Computer plötzlich jeder über eigene Produktions-, Informations- und Distributionsmittel verfügte. Wissen, Arbeit und Darstellung entsprangen der eigenen Maschine, was der Ordnung einen Stoß versetzte. Der moderne Staat war einst durch Bündelung und Sammlung der Verwaltungsakten in den höfischen Kanzleien entstanden.1 Wenn heute jeder selbst sein Leben verwalten, Programme schreiben, digitale Produkte kreieren, ein Geschäft aufbauen und mit Bitcoins sogar die staatliche Münzhoheit umgehen kann, dann ist der Staat am Ende. »Dem Staat schlägt seine Todesstunde also jetzt«, schlussfolgerte Friedrich Kittler vor einigen Jahren.2 Doch er verschwindet nicht ganz. Er spaltete sich auf in eine übergreifende, unverfügbare technologische Struktur und einen Souveränitätsrest, der am Individuum hängenbleibt. »L’Etat, c’est moi« kann dieses nun sagen und wird zum König.
Damit ist die Französische Revolution durch Rückabwicklung vollendet. Sie setzt den König, den sie einst geköpft hat, wieder auf den Thron, lässt den Kopf aber unten, so dass das royale Subjekt ohne eigenes Haupt in der Substanz existiert, in Technik und Umwelt, in Geräten und Natur, im Internet, in Wäldern und Gezeiten. So wie das mittelalterliche Königtum von der Herrlichkeit des Glaubens und der Fürsprache des Papstes abhing, zehren die heutigen Könige von ihrer digitalen Umwelt. Sie brauchen das Netz, die heilig-geistlichen Datenströme und die Anerkennung der anderen Könige. Erst sie machen aus einem seltsamen Eigenbrötler, der in seiner Traumwelt lebt, einen stattlichen König mit Titel und Krone. Sie glauben an ihn, er an sich und alle an die Technik. Hard- und Software werden an anderer Stelle produziert, man selbst ist nur noch Anwender der päpstlich-bischöflichen Übersetzungsleistung. Hin und wieder mag es einen Frondeur wie Friedrich Kittler geben, der ein spätadeliges Autonomie-Ideal hochhält und uns alle zu Programmierern machen will, um die Freiheit zu verteidigen.3 Aber damit bleibt er die Ausnahme. Die meisten leben von der Glaubenssubstanz der Anwendungen und Geräte, akzeptieren die Verwandtschaft von Netz und Christ und das Mysterium der Algorithmen.
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