Der große Freund

Philosophie ist, nach einer berühmten Formulierung Hegels, »ihre Zeit in Gedanken erfaßt«. Die Beschäftigung mit Alltag und News ist daher keine bloße Nebentätigkeit. Auch kein pädagogischer Zusatz, mit dem der Philosoph den Leuten mitteilt, was er im stillen Kämmerlein herausgefunden hat. Sie ist das Material, von dem er lebt, der Unruhepol im eigenen System, der Geist, der alles in Bewegung hält und zu Veränderungen der Theorie führt. Krisenzeiten, in denen die Ordnung ins Rutschen gerät, sind daher Denkzeiten.

(Dieser Text ist im Märzheft 2023, Merkur # 885, erschienen.)

Das Material verformt sich, und die alten Begriffe kommen auf den Prüfstand. Man fragt, ob sie noch etwas taugen oder entsorgt oder zumindest umgearbeitet werden müssen. Dies können wir auch am Ukrainekrieg beobachten. Schon kurz nach Ausbruch war sich das Gros der westeuropäischen, vor allem deutschen Kommentatoren und Politikerinnen einig, dass man bislang zu naiv gewesen sei.1 Das Vertrauen in Verträge und Handel oder gar Pazifismus wurde einer alten Wesensart zugeschlagen, für die man sich zu schämen begann und von der man sich schleunigst verabschieden wollte. Man interessierte sich fortan für Waffen, Geopolitik und für Feinde und verschob damit den herrschenden Begriff des Politischen.

Feinde, Rechthaber und Ordnungsstifter

Konrad Paul Liessmann, Philosoph aus Wien, schrieb im August 2022, Putin lehre uns, dass Politik ohne Feindschaft nicht zu haben sei.2 Unter Berufung auf Carl Schmitt führte er aus, dass erst der Feind einen Gegenstand politisch macht, der bis dahin eine Angelegenheit der Verwaltung war: Der Klimaleugner verwandelt Umweltmaßnahmen in Klimapolitik, der Widerstand der Querdenkerin erzwingt Corona-Politik, und Putins Hass auf das Selbstbestimmungsrecht von Individuen, die nicht Putin, und Staaten, die nicht Russland heißen, macht den Liberalismus des Westens zu einem politischen Projekt. Man weiß nun, wogegen man kämpft, und damit über Umwege auch, wofür.

Martin Rhonheimer, Philosoph aus Zürich, widerspricht: Nicht Feindschaft sei die Essenz des Politischen, sondern die »Herrschaft des Rechts«.3 Wo Regeln eingehalten werden und sich die Gesellschaft in einem Rhythmus bewegt, für den sie sich selbst entschieden hat, findet Politik statt. Wo sie gebrochen werden, entsteht ein Feind, der sich als disharmonischer Störenfried nicht im Zentrum, sondern an den Rändern des Politischen befindet. Unter Berufung auf Hobbes und Locke scheint es Rhonheimer vor allem auf ein Recht anzukommen, das allem anderen vorausgeht: das Recht auf Selbsterhaltung, ausgedrückt im Privateigentum, aus dem letztlich das Individuum und der freie Westen hervorgehen.

Einig sind sich Liessmann und Rhonheimer in ihrer Ablehnung des Habermas’schen Deliberationsideals. Sie sehen darin den Geist einer alten Epoche, die am 24. Februar 2022 endete. Dass Menschen in freier Übereinkunft über ihre Angelegenheiten beraten, nur dem »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« verpflichtet, dass also der Dialog dominiert, finden beide hoffnungslos naiv; Rhonheimer spricht sogar von »Realitätsverweigerung«. Man hört eine gewisse Lust an der neuen Situation heraus, eine Freude darüber, endlich mit alten Gewissheiten aufräumen und den verträumten Idealismus der Berliner Republik verabschieden zu können.

Aber warum diese Ausschließlichkeit? Warum die Begrenzung des Politischen auf Feindschaft oder Recht? Gewiss sind beides politische Momente – aber die einzigen? Wenn wir Politik etwas umfassender als Akt der Festlegung, Verschiebung und Außerkraftsetzung einer Ordnung begreifen, dann fällt noch viel mehr darunter: Kriegserklärungen und Friedensschlüsse, Revolutionen, Verfassungsgebung, Wahlen, Gesetzgebung, Auslegung durch Gerichte, Umsetzung durch Verwaltungen, Diskussionen im Privaten und in der Öffentlichkeit, in denen kollektivem Handeln eine Richtung gegeben wird – Momente intensiver Feindschaft und Freundschaft.

 

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