• Je me souviens. Québec erinnert sich

    Le Devoir macht mit düsteren Nachrichten auf. Kanada befindet sich offiziell in einer Rezession, die fallenden Ölpreise treffen die Ölsandindustrie in Alberta und die Angestellten des internationalen Filmfestivals drohen zu streiken. Im Oktober, wenn es kalt wird, stehen Unterhauswahlen an. Der seit 2006 regierende konservative Premier Stephen Harper ist unbeliebt, von Skandalen gezeichnet – sein ehemaliger Stabschef hat versucht, Spesenmissbrauch einiger Senatoren zu vertuschen – und könnte doch dank des first-past-the-post-Modus wiedergewählt werden. Justin Trudeau, nach dessen Vater Pierre Elliott der internationale Flughafen von Montréal benannt ist, wird es wohl nicht gelingen, den Familienauftrag zu erfüllen; er ringt mit dem Anti-Austeritäts-Investitionsprogramm seiner Liberal Party zusehends erfolglos mit den Neuen Demokraten, die auf Französisch unvorteilhaft NPD abgekürzt werden, darum, wer die bessere Alternative zu Harper abgäbe. Die Straßen Montréals sind wie an vielen Orten Nordamerikas schachbrettartig organisiert. Diese Aufteilung ist aber keine Kopie New Yorks, sondern hat ihre Wurzeln in den rangs der Feldern der Normandie und der Bretagne. Von dort nämlich kamen im 17. und 18. Jahrhundert die meisten Siedler nach Nouvelle-France. Vor den Häusern gibt es Veranden, auf denen man sitzt, raucht und auf die baumgesäumte Straße schaut. Die Wohnungen sind langgezogen, eng und gehen auf einen schmalen Plot hin. Diente die Stirnseite einst zur (klein-)bürgerlichen Repräsentation, spielt das Leben, seit es Autos gibt, eher in den Hinterhöfen und den angeschlossenen ruelles, die einen nicht klar definierten Status zwischen Privatbesitz, Allmende und öffentlichen Straßen einnehmen. Manche nutzen sie als Parkplätze, andere für Nachbarschaftsgärten. (mehr …)
  • Ataraxia in Assos

    Vom Athenatempel sind die Grundrisse übrig, sonst noch ein paar laienhaft aufgestellte dorische Säulen, eine Reproduktion des mutmaßlichen Originals hinter Glas im Maßstab 1:50 und ein großartiger Blick in die Landschaft. Aristoteles kam einst nach Platons Tod von Athen nach Assos und blieb, bis er weiterzog zum Hof Philipps von Makedonien, wo er den kleinen Alexander unterwies, der bald darauf Assos und die halbe Welt eroberte. Jedes Jahr gibt es zu seinen Ehren (Aristoteles, nicht Alexander) ein Festival der Philosophie, das aber schon im Juli stattfand. Das Thema dieses Jahr war Ataraxia, Seelenruhe. Im Hotel, das zwei pensionierte Istanbullus leiten, philosophieren die Gäste beim Frühstück unter Weintrauben eher über die gescheiterte Regierungsbildung, die vermutlich im November anstehenden Neuwahlen und vor allem die täglich an Wert verlierende Lira. Für einen Euro bekommt man 3,30 Lira – vor einem Monat waren es noch 2,90. In der Ägäis sind die meisten Türken Gegner der Regierung, auch in den Dörfern der Umgebung. In den neunziger Jahren entstand hier, in der Gegend von Bergama eine der ersten Umweltschutzbewegungen des Landes, die sich gegen die Ausbeutung der Goldvorkommen durch ausländische Konzerne wandte. (mehr …)
  • „Bisher nicht völlig fertiggestellt“ – Istanbul im Sommer

    Nachts, von den Wellenbrechern, auf denen die Katzen um ihr Revier kämpfen, sehen die Inseln aus wie riesige Kreuzfahrtschiffe. Oder wie Flugzeugträger, das liegt im Auge des Betrachters. Auf der Strandpromenade gehen die verbliebenen Paare spazieren, bringen Väter ihren Töchtern Inlineskaten bei und essen auf mitgebrachten Klappstühlen sitzende Rentner von den Strassenhändlern gekaufte Sonnenblumenkerne. Es ist angenehm leer, hier nahe der Bağdat Caddesi, der kilometerlangen Einkaufs- und Flaniermeile, berühmt für die vielen Starbucks und die cadde kizları, die schönen schicken gelangweilt schauenden jungen Frauen. Während die ausländischen Korrespondenten ins Kriegsgebiet nahe der syrischen Grenze reisen, fahren die, die es sich leisten können, an die Küste nach Bodrum oder Çeşme. Statt ans Meer gehe ich in die andere Richtung bis ich auf die aufgelassene Eisenbahntrasse stoße. Trotz der Ferien sind die Straßen voller Lastwagen. Überall wird gebaut. Kentsel dönüşüm, der städtische Wandel, heißt das von der Regierung beschlossene und von mit ihr verbandelten Bauunternehmen enthusiastisch durchgeführte Programm. Alte Häuser werden abgerissen und innerhalb kürzester Zeit moderner und mehrere Stockwerke höher wieder aufgebaut. Dabei entstehen den bisherigen Wohnungsbesitzer meist keine Kosten; dank der immer weiter steigenden Immobilienpreise genügt den Baufirmen der Verkauf der zusätzlich entstehenden Wohnungen, um Gewinn zu machen. (mehr …)