• Das Vergessen ist ein Meister aus Deutschland. Zu einem symptomatischen Scheitern an der eigenen Geschichte

    Wollte ein deutscher Journalist, sagen wir aus berufsbedingtem Zeitdruck, sich auf Wikipedia kurz über die Geschichte des Slogans »Nie wieder!« informieren, würde er in seiner eigenen Sprache nicht fündig. Es gibt Einträge auf Englisch, Französisch, Russisch, Hebräisch und Spanisch, aber nicht auf Deutsch. Soweit bekannt, spricht der Berliner Theaterkritiker Simon Strauß ausgezeichnet Englisch. Hätte er doch nur Gebrauch davon gemacht. Ihm wäre ein Abgrund an Peinlichkeit erspart geblieben. (mehr …)
  • Zurückrudern auf Polnisch

    Anderthalb Jahre nach dem Sieg der Bürgerplattform in den polnischen Parlamentswahlen sind die Folgen der national-katholischen Übernahme zentraler polnischer Kultureinrichtungen noch immer zu spüren. Sowohl die Geschwindigkeit als auch das Ausmaß der Veränderungen der Kulturpolitik unter der Ägide des PiS-Kulturministers Piotr Gliński stellt bis heute eine Herausforderung für die neue Regierung dar. Robert Piaskowski vom Polnischen Kulturinstituts beschreibt die Transformation als fragilen Prozess. Bei einer Diskussion Polnischer Perspektiven an der Berliner Akademie der Künste erklärte er, dass erst der Ausgang der Präsidentschaftswahlen im Mai Gewissheit über die Arbeitsbedingungen für polnische Kulturschaffende bringen werde. Olga Brzezińska vom Adam Mickiewicz Institut betont: „Der mühsame Weg zur Demokratie lässt sich nicht vorhersagen“ und fügt hinzu: „Die PiS hatte Kultursystematisch zur politischen Waffe gemacht.“  (mehr …)
  • Republiken vernünftiger Menschen. Die Kulturgemeinschaft Borussia und das Ermland

    iiund jetzt nur in Eile packen, ständig, täglich und atemlos fahren nach Lemberg, es ist ja vorhanden, ruhig und rein wie ein Pfirsich. Lemberg ist überall.

    Adam Zagajewski, Nach Lemberg fahren (übersetzt von Karl Dedecius)

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  • Es ist der Text, der vorliegt (Kind, Mutter, Vater). Zu Yasushi Inoues Prosagedicht Februar

    Ich kann kein Japanisch. Ich weiß nicht, wie die japanische Sprache funktioniert. Ich habe keine Ahnung von der japanischen Kultur. Dreifache Fremdheit, unüberbrückbar. Eine Assoziation, die zu einem Vergleich führt, von dem ich nicht weiß, ob er irgendwohin führt oder irgendetwas erhellt: Vielleicht sollte ich mir dieses Prosagedicht Februar von Yasushi Inoue so schnappen wie es Freud für Träume anordnete. Das Original aus der Nacht ist nicht erhältlich. Vergessen, Vagheit, oft ahnt man, da war noch was. Was soll dann Grundlage einer Deutung sein? Freud, forsch dezisionistisch. Das, was man aufschreibt, ist der Traum. Ein Original existiert nicht. Und für mich gibt es auch kein Original (japanische Schriftzeichen, Syntax/Semantik, Sprache, japanische Denkweisen).   (mehr …)
  • FOR REAL? Vernunft und Paranoia in trautem Zwiegespräch

    Jetzt noch eine knappe Woche. Und die Frage: Werde ich jemals in dieses Land zurückkehren? Gerade dachte ich: nein. Oh! Aber was hat das zu bedeuten? Was sollte ich dann alles in den wenigen kommenden Tagen zum letzten Mal sehen? Spüre eine deutliche Endzeitspannung, die mich nervös macht. Am Ende werde ich heute das Haus gar nicht verlassen. Es ist auch Sonntag, ich muss mich sortieren. Den Übergang denken. Augen brennen. Ist das eine Allergie? Frühblüher, superfrüh in diesem Jahr. Das weite Land, immerzu in überhitzten Räumen weiteratmen. Komischer Körper. Was weiß ich. In die Zurückhaltung gehen. Gegangen sein. Zu nervös, um zu lesen, it feels. Fuchskadaver! Vögel im freien Fall. I-do-Bird-Sequenzen. [Inzwischen bin ich zurück in Deutschland und vieles, von dem, was ich vor wenigen Wochen beschrieben habe, ist schon wieder überholt, aber vielleicht nicht vollkommen obsolet.] (mehr …)
  • Die schöne Stadt

    Die Stadt war so schön, in der Morgendämmerung, im Abendlicht, mitten in der Nacht, am Vormittag, vor 25 Jahren, heute noch, stellenweise, an den Rändern, in der Mitte, unter all den Schritten, entlang ihres erstaunlichen Rasters. Gehen, gehen, gehen, stehenbleiben. Dann wieder gehen, über die Manhattan Bridge unter dem ohrenbetäubenden Rattern der Metrozüge, die in kurzen Abständen die Brücke passierten, von oben auf die Küstenlinie der Gentrifizierung schauen, weitergehen, einsteigen, zurückfahren. Was so schön und gestern noch lebendig war. Und es morgen wieder ist, mit anderen Lebendigen. Eintreten in eine lange Zeit und gleich darauf, kurz vor der Abreise, kaum je wirklich dort gewesen sein.  (mehr …)
  • Verleihung des Merkur-Preises 2024 an Cosima Götz

    Wir laden ein zur Verleihung des Merkur-Preises 2024 an Cosima Götz am 28. März. Ausgezeichnet wird ihre Dissertation Metropolen im Wettbewerb. Stadtplanung und Stadtgesellschaften in der ersten Globalisierung, 1890-1940. (Mehr dazu hier.) Die Veranstaltung mit kurzer Vorstellung der Arbeit und Möglichkeit zum Gespräch findet in den Räumen der Redaktion in der Mommsenstraße 27 in Berlin-Charlottenburg statt. Beginn: 18 Uhr. Der Eintritt ist frei. Wir bitten aber um Anmeldung per Mail an redaktion@merkur-zeitschrift.de.
  • CAR BRAIN. The musings of durchgeknallter Car Dealer

    Es schneit. Die Autos schleichen dahin. Fußgänger gehen langsamer als sonst, sie gehen wie auf Eis. Sofort wird geräumt. Viele Leute sind mit der Beseitigung des Schnees, der fällt, befasst. Kleiner Schneepflug! Hehe, kleiner Schneepflug! Bildnis der Autorin als Kleiner Schneepflug. Der Schnee und die Sirenen. Die Schneehupe betätigen. Es schneit, ich muss die Schneehupe betätigen. Duolingo lässt mich sagen: Bu şahidim, kurban değilim. I am a witness, I am not a victim. Bu şehirde gezmek istiyorum. I want to walk around in this city.  (mehr …)
  • Braucht Demokratie Vertrauen?

    Vertrauen – das ist, ähnlich wie Zusammenhalt, so ein Sonntagsredenwort.  Alle sind irgendwie dafür, aber keiner weiß genau warum.  Das heißt, manche haben schon ihre Gründe: So erklärte kürzlich eine Fachärztin für Allgemeinmedizin in der FAZ, ein „schönes Miteinander“ sei entscheidend für ein langes, gesundes Leben.   Aber lässt sich jenseits solcher self-help-Ratschläge etwas spezifisch sagen über politisches Vertrauen in komplexen Gesellschaften, in denen man eben für gewöhnlich anonym bleibt und größtenteils sehr wenig miteinander zu tun hat?  (mehr …)
  • TROST und ANTI-TROST

    „The word ‚fact‘ stems from the Latin factum (thing done), and modern usage of ‚fact‘ is linked to double-entry bookkeeping practices in early mercantile capitalism. ‚Truth‘ is etymologically linked to ‚trust‘, and ‚authenticity‘, which shares roots with ‚authoritarian‘ and with ‚author‘, is historically linked to dramatic self-creation and rhetoric. Tellingly, the 2016 U.S. presidental election was described both as ‚the authenticity election‘ and as normalizing ‚fake news‘. The more politicians lied, the more ‚authentic‘ they appeared.“ (Wendy Hui Kyong Chun: Discriminating Data, Cambridge, 2021. Seite 32 (mehr …)