• Akzelerationismus vs. Akademismus (im Centre Pompidou)

    Letzten Montag wurde im Centre Pompidou das »Manifesto for an Accelerationist Politics« von Alex Williams und Nick Srnicek vorgestellt. Vor genau einem Jahr hatte Armen Avanessian zur deutschen Buchpremiere des Manifests bei Merve über fünfhundert Leute am Alexanderplatz versammelt. Nachdem das Manifest inzwischen in knapp zwanzig Sprachen vorliegt, reagiert auch Paris. Übersetzt und rausgebracht hat den Text nun Yves Citton, Literaturprofessor aus Genf, in seiner Zeitschrift Multitudes. Die hat einen so lupenreinen linken Ruf, dass ich sie im Prinzip für eine der besten halte, tatsächlich aber noch nie gelesen habe. Auch in Paris zieht der Akzelerationismus. Von über zweihundert Interessenten müssen, weil der Saal zu klein ist, etwa fünfzig draußen bleiben. Wie nimmt das französische Establishment ein politisches Programm wahr, das von zwei Londoner Doktoranden in International Relations aufgesetzt wurde und seit einem guten Jahr die internationale Theoriebranche mit Schlagworten beliefert? Um das Ende vorweg zu nehmen: als Ärgernis, ja als Bedrohung. Ein paar anerkennende Worte gab es zwar, die wirkten aber wie minimale Höflichkeitsadressen in einer ansonsten allergischen Abwehrreaktion. Williams und Srnicek, die wegen eines Visumsproblems (Srnicek ist Australier) nicht hatten anreisen können, durften sich per Skype zwei Totalverrisse ihres Manifests anhören. (mehr …)
  • Veranstaltungen mit Merkur-AutorInnen (II)

    Frankfurter Buchmesse 2013Merkur-Tag auf der Frankfurter Buchmesse: Am 10. Oktober diskutiert Kathrin Passig mit Sandra Kegel, John Cohen und Rudolf Frankl über die Zukunft der Buchhandlung. Die Veranstaltung beginnt um 10 Uhr auf dem Messegelände, 4.0 D106. Um 14 Uhr berichten Ilija Trojanow und Passig über ihre Reiseeindrücke im Gastland Brasilien, Veranstaltungsort ist ebenfalls das Messegelände, 4.1 L1. Und ab 18.30 Uhr liest Ralph Bollmann im Haus am Dom aus seinem Kanzlerinnenportrait Die Deutsche. Angela Merkel und wir.

    Weitere Hinweise sind natürlich jederzeit willkommen.

    (dw)

  • Meine deutsche Frage. Aus dem Tagebuch 1993

    Vorbemerkung: Dies ist die Langfassung von Michael Rutschkys Tagebuchaufzeichnungen des Jahres 1993. Eine deutlich gekürzte Fassung ist im Märzheft erschienen. Sie ist, ebenso wie zwei frühere Folgen - nämlich aus dem August 2010 (1990) und dem Juli 2011 (1991) -, im Onlinearchiv abrufbar.

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    Freitag, 1. Januar, Berlin. - Alle haben zum Jahreswechsel geschrieben, erzählt meine Mutter am Telefon. Mit Ausnahme von "Fischer", wie sie früher hieß, Gerda Peus, eine Mitschülerin im Berliner Lettehaus, aus der Prähistorie. Vor kurzer Zeit behauptete sie, meine Mutter werde sie gewiss überleben. „Da macht man sich doch Sorgen.“

    In ihrem letzten Brief erzählte Gerda Peus, ihr Sohn Jochen habe ihr eine Gardinenpredigt gehalten, und sie habe sich anstrengen müssen, um nicht zurückzuschlagen. Warum Gardinenpredigt? „Na, vermutlich weil sie dauernd klagt über ihr Befinden. Sie soll sich ein bisschen zusammennehmen.“

    Irgendwann habe sie sogar mal gestanden, es sei wohl ein Fehler gewesen, nach Amerika auszuwandern. „Sie fühlt sich regelrecht entwurzelt.“ Das Ehepaar Peus ging um 1950 hinüber, als man dachte, Deutschland bleibe auf ewig am Boden. – Sie fühlt sich entwurzelt, weil sie außerhalb der Familie keine Freunde hat, und die Familie lebt weit verstreut in den Staaten. Der Sohn Jochen, Arzt wie sein Vater, kommt einmal in der Woche und führt seine Mutter zum Essen aus…

    Dem Söhnchen geht es glänzend, erzählt Wackwitz am Telefon. Er sei ohne Frage das schönste und höchstbegabte Kind auf Gottes weiter Erde... Er, Wackwitz, werde übrigens im Sommer nach Deutschland zurückkehren, nach München. Er werde Redenschreiber von Präsident Harnischfeger. Und seine Frau strebe gleichfalls fort aus Japan, obwohl das Leben hier (dort) sich gerade sehr angenehm gestalte.

    . (mehr …)

  • Nominierung und Preis

    Wir gratulieren unserem Literaturkolumnisten David Wagner zum Platz auf der Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse. Seine nächste - und leider letzte - Kolumne erscheint im Herbst. Alle bisherigen lassen sich aber auch digital erwerben: 1 / 2 / 3 / 4 / 5. Seine Erzählung Für neue Leben, eine Vorstufe des jetzt nominierten Romans Leben, ist ebenfalls im Merkur erschienen. Auch auf der Shortlist: Wolfgang Streeck, dessen Aufsatz  Wissen als Macht, Macht als Wissen im letzten Merkur-Doppelheft zu lesen war. Ebenfalls gratulieren wir Thomas Hettche - von ihm haben wir im Juni vergangenen Jahres den Essay Feindberührung veröffentlicht - zum nicht so attraktiv benamsten, aber attraktiv (mit 20.000 Euro) dotierten Düsseldorfer Literaturpreis der Stadtsparkasse. Er erhält ihn für seinen Essayband Totenberg, der auch den Merkur-Text enthält.
  • Durchverstehen mit Dalí: Pariser Notizen V

    Abendliches Winterwetter in Paris, überall liegt Schnee, dicke Schneeflocken fliegen durch die Luft. Die Befestigungspfosten der Vélib-Fahrradleihstationen sind dick zugeschneit, die grünen Lichter der Verfügbarkeits-Dioden scheinen durch die Schneeschicht hindurch. Mit den angenehm abgedämpften Straßengeräuschen und dem marsianisch orange eingefärbten Nachthimmel kommt einem die Stadt surrealistisch heruntergedrosselt vor. Kaum jemand ist unterwegs, nur wenige Autos und Supermarkt-Rentner schleichen auf nicht geräumten Straßen und Wegen ihren Zielen entgegen. Ich schleiche meinerseits, von der Rue Turbigo kommend, die Rue Beaubourg hinunter, auf dem Weg zur Dalí-Ausstellung im Centre Pompidou. Bereits der zweite Versuch. Der erste Versuch, in der Neujahrswoche, scheiterte an der Besucherschlange, die einmal rund um das Centre Pompidou reichte. Damals war ich darüber fast erleichtert, denn meine Lust auf Dalí-Ausstellungen hält sich in Grenzen, seitdem einem im Kunstunterricht moderne Kunst, beziehungsweise das, was man als Frühpubertierender darunter verstand, mit Hilfe des hochpolierten Surrealismus à la Dalí oder Magritte nähergebracht wurde. Was auch funktioniert hat und weshalb man sich heute noch etwas dafür hasst, auf pfannkuchenartig verschmolzene Uhren und Männer mit Hut und grünem Apfel vor dem Gesicht hereingefallen zu sein, in dem festen und überheblichen Glauben, ab sofort moderne Kunst komplett durchverstehen zu können. (mehr …)
  • Total aufgemuskelt. Pariser Notizen IV

    In letzter Minute doch noch schlechte Karten für Harold Pinters Le Retour im Théâtre de l‘Odéon bekommen. Die Telefonfrau der Theaterkasse hatte mich fünfmal darauf hingewiesen, dass die visibilité aber réduite wäre, zweiter Rang, Balkonplätze, rechts am Rand undsoweiter. Ich dachte leicht angenervt auf Deutsch in mich hinein: ist ja gut, mach mal voran und lass mich endlich meinen komplizierten Nachnamen auf Französisch durchbuchstabieren, damit das Gespräch ein Ende hat. Überhaupt hat die notorische Lahmheit der schlechtbezahlten Angestellten an Theater-, Kino- und Supermarktkassen, bei McDonald’s, Uniqlo und Fnac recht schnell ihren folkloristischen Reiz verloren, den man im Sommer noch großzügig über die Stadt verstreut hatte. (mehr …)
  • Geschlossene Abteilung. Pariser Notizen II

    Das discounterhaft Unglamouröse am Metrofahren ist auch so ein angenehmes Paris-Ding, das einem die oberirdische, oft schon an Klischeekitsch grenzende Schönheit der Stadt erträglicher macht. Die Waggons sind zu jeder Tageszeit voll, die Sitzplätze zu eng, in den Verbindungstunnels beim Linienwechsel geht man prinzipiell auf der falschen Seite und wenn man dann wie immer den falschen Metroausgang genommen hat, steht man plötzlich auf dem Boulevard Saint-Germain, den man auch lieber zu Rimbauds oder Sartres Zeiten beschritten hätte. Vorbei am Crêpes-Stand mit den aufgestapelten Nutella-Gläsern, vorbei an den berühmten Cafés, in die man extra nicht reingeht, und immer weiter hoch Richtung Rue du Bac, wo sich die Exklusivität der Straße auf luxuriöse Küchenstudios und aus dem Mittelalter herausgeschossene Maronenverkäufer beschränkt. (mehr …)
  • Schön und wahr. Pariser Notizen I

    Stephan Herczeg wird für den Merkurblog in loser Folge als Kulturkorrespondent aus Paris berichten. Der Kulturbegriff soll dabei ein erweiterter sein. Ich stehe vor der Joghurtwand eines Pariser Supermarkts. Sieben Meter Joghurtprodukte neben- und übereinander, mit und ohne Fruchtgeschmack, in allen Fettstufen, von Kuh oder Ziege, biologisch oder normal, mit proaktiven Kulturen oder undeklariert, einzeln erhältlich oder im 16er-Pack. Die Frau, hinter der ich später fünfzehn Minuten an der Kasse stehen werde, weil sie für über vierhundert Euro Lebensmittel, Toilettenpapier, Schreibwaren, einen Schal, die Taschenbuchausgabe von Cinquante Nuances de Grey, einen Kochtopf, zwei Flaschen Champagner, ein schwarzes Negligé, eine Tischdecke und einen plumpen Brotkorb gekauft hat, stopft zwei 16er-Packs Fruchtjoghurt in ihren riesigen schwarzen Einkaufstrolley, während sie mit ihrem schulpflichtigen Kind telefoniert. Ich bewundere ihre Entschlusskraft, kann mich aber für kein Milchprodukt entscheiden und wende mich der gegenüberliegenden, gleich langen Nachspeisenwand zu. Die erstbeste Crème Caramel im Glas-Zweierpack wandert in den Einkaufskorb. Der Supermarkt-Voyeurismus muss ein Ende haben. (mehr …)
  • No pasarán! Notizen zur Buchmesse

    Der Mond ist aufgegangen in Neuseelands finst'ren Hallen. In schmalen Kojen baumeln ein paar Bücher mit teils irgendeinem Neuseelandbezug, in dunkler Ecke hinter schwarzer Wand tragen Dichterinnen vor und Dichter. Kann sein, dass Menschen fallen, ins flache Wasser nämlich, das weite Teile des Bodens bedeckt. Ansonsten bleibt vieles im Dunklen, vor allem, was das Selbst genau sein soll, als das das Buchmessengastland sich nachtschwarz und dann doch weitgehend buchlos und in Großprojektionen auf Videoleinwänden darstellt. Macht durchaus Eindruck, diese Installation, besser wär's nur, man wüsste auch welchen.  (mehr …)