• Klagenfurt, Tag 3, 4: Durch sein, fertig werden

    Dass es Sharon Dodua Otoo ist, die Bachmannpreisplastik und -geld mitnehmen darf, das ist ein gutes Staffelfinale! Dass nach drei Tagen Zuhören, Mitdenken, Diskutieren sich wenigstens für die Gewinner*innen wirklich etwas tut, vielleicht, das ist am wenigsten schlimm. Also an dieser Stelle jetzt kein Sinn-Narrativ aufmachen und erklären, für wen oder was Otoo gewonnen hat oder was ihr Sieg repräsentiert. Sie hat jetzt hoffentlich ein, zwei Möglichkeiten mehr, zu machen, was sie will. (mehr …)
  • Je me souviens. Québec erinnert sich

    Le Devoir macht mit düsteren Nachrichten auf. Kanada befindet sich offiziell in einer Rezession, die fallenden Ölpreise treffen die Ölsandindustrie in Alberta und die Angestellten des internationalen Filmfestivals drohen zu streiken. Im Oktober, wenn es kalt wird, stehen Unterhauswahlen an. Der seit 2006 regierende konservative Premier Stephen Harper ist unbeliebt, von Skandalen gezeichnet – sein ehemaliger Stabschef hat versucht, Spesenmissbrauch einiger Senatoren zu vertuschen – und könnte doch dank des first-past-the-post-Modus wiedergewählt werden. Justin Trudeau, nach dessen Vater Pierre Elliott der internationale Flughafen von Montréal benannt ist, wird es wohl nicht gelingen, den Familienauftrag zu erfüllen; er ringt mit dem Anti-Austeritäts-Investitionsprogramm seiner Liberal Party zusehends erfolglos mit den Neuen Demokraten, die auf Französisch unvorteilhaft NPD abgekürzt werden, darum, wer die bessere Alternative zu Harper abgäbe. Die Straßen Montréals sind wie an vielen Orten Nordamerikas schachbrettartig organisiert. Diese Aufteilung ist aber keine Kopie New Yorks, sondern hat ihre Wurzeln in den rangs der Feldern der Normandie und der Bretagne. Von dort nämlich kamen im 17. und 18. Jahrhundert die meisten Siedler nach Nouvelle-France. Vor den Häusern gibt es Veranden, auf denen man sitzt, raucht und auf die baumgesäumte Straße schaut. Die Wohnungen sind langgezogen, eng und gehen auf einen schmalen Plot hin. Diente die Stirnseite einst zur (klein-)bürgerlichen Repräsentation, spielt das Leben, seit es Autos gibt, eher in den Hinterhöfen und den angeschlossenen ruelles, die einen nicht klar definierten Status zwischen Privatbesitz, Allmende und öffentlichen Straßen einnehmen. Manche nutzen sie als Parkplätze, andere für Nachbarschaftsgärten. (mehr …)
  • Das Wissen ist an die Person gebunden. Eine transatlantische Beobachtung amerikanischer Universitäten

    Als er nach sechs Jahren Kalifornien seinen PhD an einer renommierten Universität bekam und ich parallel dabei war, Bewerbungsformulare für einen ebensolchen auszufüllen, versuchten ein Freund und ich das humanities-Studium in den USA auf zwei Nenner zu bringen. Zum einen – so seine Bilanz und mein Ausblick – gebe es in diesen renommierten Universitäten im Vergleich zu dem, was wir in Deutschland kannten, eine anregende Freiheit von Methode und Themenwahl, zum Anderen müsse man aber eigenen intellektuellen Proviant mitbringen – und zwar aus Europa. Nach vier Jahren in einem Doktorandenprogramm an einer Ivy-League-Universität gilt für mich dieser Befund immer noch, wenn auch beschränkt auf Erfahrungen an diesen verschiedenen angesehenen und meist privaten Universitäten. Man bekommt über ihn jedoch schnell Einblick in die Spannung zwischen Tradition und Zukunft, die in den USA omnipräsent ist und sich bereits im Verhältnis zwischen Antworten und Fragen, oder zwischen Gesellschaft und Individuum fortsetzt. Über breite Debatten zu Bürgerrechten ­oder über Environmentalism ist die dortige Zivilgesellschaft gerade erst dabei, die Kategorie "Geschichte" für die Arbeit an sich selbst fruchtbar zu machen – und zwar in einer ausdrücklichen Wendung gegen die Geschichtslosigkeit ihrer Gründungsutopie. Wenn aus europäischer Sicht die Universität traditionell der Ort ist, an dem spezialisierter Überblick und angesammeltes, gebündeltes Wissen auf die Gegenwart treffen, dann wird in den USA überhaupt erst darüber verhandelt, ob dies die Rolle der Universität sein sollte. Natürlich läuft das dann gerade nicht unter diesen europäischen Vorzeichen, sondern beispielsweise über die Frage, wieweit sich eine hunderte Jahre alte Universität um ihren gewinnbringenden brand value kümmern muss, ob doctoral students noch Hoffnung auf eine Anstellung in ihrem Ausbildungsfeld haben sollten, oder ob Professoren, die online teaching für ihre Universität ablehnen und an der Hier-und-Jetzt-Wirklichkeit eines Seminars festhalten, aus Universitätssicht nicht zukunftsorientiert genug sind, wie es mir von einem Universitätsvertreter erklärt wurde. Wendet sich Bildung konzentriert nach innen oder nach außen? In einer Gesellschaft die auf Pragmatismus und Progressivität gebaut ist, steht hinter diesen Alternativen jedes Mal das Zweifeln, ob Lehre und Forschung sich an Bestehendem, Erreichtem und Bewährtem messen lassen müssen – oder nicht. (mehr …)
  • Ataraxia in Assos

    Vom Athenatempel sind die Grundrisse übrig, sonst noch ein paar laienhaft aufgestellte dorische Säulen, eine Reproduktion des mutmaßlichen Originals hinter Glas im Maßstab 1:50 und ein großartiger Blick in die Landschaft. Aristoteles kam einst nach Platons Tod von Athen nach Assos und blieb, bis er weiterzog zum Hof Philipps von Makedonien, wo er den kleinen Alexander unterwies, der bald darauf Assos und die halbe Welt eroberte. Jedes Jahr gibt es zu seinen Ehren (Aristoteles, nicht Alexander) ein Festival der Philosophie, das aber schon im Juli stattfand. Das Thema dieses Jahr war Ataraxia, Seelenruhe. Im Hotel, das zwei pensionierte Istanbullus leiten, philosophieren die Gäste beim Frühstück unter Weintrauben eher über die gescheiterte Regierungsbildung, die vermutlich im November anstehenden Neuwahlen und vor allem die täglich an Wert verlierende Lira. Für einen Euro bekommt man 3,30 Lira – vor einem Monat waren es noch 2,90. In der Ägäis sind die meisten Türken Gegner der Regierung, auch in den Dörfern der Umgebung. In den neunziger Jahren entstand hier, in der Gegend von Bergama eine der ersten Umweltschutzbewegungen des Landes, die sich gegen die Ausbeutung der Goldvorkommen durch ausländische Konzerne wandte. (mehr …)
  • „Bisher nicht völlig fertiggestellt“ – Istanbul im Sommer

    Nachts, von den Wellenbrechern, auf denen die Katzen um ihr Revier kämpfen, sehen die Inseln aus wie riesige Kreuzfahrtschiffe. Oder wie Flugzeugträger, das liegt im Auge des Betrachters. Auf der Strandpromenade gehen die verbliebenen Paare spazieren, bringen Väter ihren Töchtern Inlineskaten bei und essen auf mitgebrachten Klappstühlen sitzende Rentner von den Strassenhändlern gekaufte Sonnenblumenkerne. Es ist angenehm leer, hier nahe der Bağdat Caddesi, der kilometerlangen Einkaufs- und Flaniermeile, berühmt für die vielen Starbucks und die cadde kizları, die schönen schicken gelangweilt schauenden jungen Frauen. Während die ausländischen Korrespondenten ins Kriegsgebiet nahe der syrischen Grenze reisen, fahren die, die es sich leisten können, an die Küste nach Bodrum oder Çeşme. Statt ans Meer gehe ich in die andere Richtung bis ich auf die aufgelassene Eisenbahntrasse stoße. Trotz der Ferien sind die Straßen voller Lastwagen. Überall wird gebaut. Kentsel dönüşüm, der städtische Wandel, heißt das von der Regierung beschlossene und von mit ihr verbandelten Bauunternehmen enthusiastisch durchgeführte Programm. Alte Häuser werden abgerissen und innerhalb kürzester Zeit moderner und mehrere Stockwerke höher wieder aufgebaut. Dabei entstehen den bisherigen Wohnungsbesitzer meist keine Kosten; dank der immer weiter steigenden Immobilienpreise genügt den Baufirmen der Verkauf der zusätzlich entstehenden Wohnungen, um Gewinn zu machen. (mehr …)
  • Pour Rainald Goetz

    Es könnten durchaus 300 Croissants sein, die ich mittlerweile bei Pierre Hermé gegessen habe. Anlass ist der Besuch im V. und VI. Arrondissement. Dort ist die Uni, also Arbeit. Man muss es sich schön machen, weil diese Pariser Stadtteile nicht schön sind. Man sieht vor allem Studenten, Reiche und Alte. Es ist die Zone der schiefgegangenen Schönheitsoperationen. Nur manchmal, wenn ich am Panthéon vorbeigehe, bin ich eingeschüchtert und muss lächeln. Das Panthéon will natürlich einschüchtern, schließlich werden dort diejenigen aufgebahrt, denen die wohl einzige Unsterblichkeit, die Sinn macht, beschieden ist, die republikanische nämlich. Rousseau wusste, dass es eine Zivilreligion braucht, Robespierre träumte gleich vom "culte de l’Être suprême". Bevölkert wird der republikanische Himmel überwiegend von Männern. Dieser Olymp ist ein ziemlicher Sackhaarberg. Sonst wüsste ich aber nicht, warum man sich im V. oder VI. Arrondissement aufhalten sollte. Nur manchmal kommt Tilman Krause von der Welt und ist traurig, dass Paris auch nicht mehr das ist, was es mal war. Noch immer gibt es viele Leute aus der Modebranche, die englischen Zeitungen ihr Paris zeigen wollen und den Lesern empfehlen, unbedingt ins Café de Flore oder ins danebenliegende Les Deux Magots zu gehen. Diesen Leuten sage ich: Ich will Euch nicht pathologisieren, aber ihr seid krank. (mehr …)
  • Indigene Stammeskulturen

    Vor kurzem stellte Giuseppe Bianco in Paris sein Buch Après Bergson. Portrait de groupe avec philosophe vor. Es wird, davon ist auszugehen, die Art und Weise ändern, wie in Frankreich über die Rezeption und Aneignung von Bergsons Denken gesprochen wird. Aber diese Veränderungen brauchen Zeit. Im Augenblick staune ich noch über Giuseppes neuen Look, während er seine Recherchen dem Publikum im Saal erläutert. Die Haare sind länger geworden und werden jetzt nach hinten gegelt. Ich weiß gar nicht, wie man die Farbe seines Hemdes nennen sollte: ein ganz blasses Pink, eigentlich fast schon weiß. Steht ihm. Später will ich wissen, woher er es hat, Acne, A.P.C., Sandro? Er schaut etwas erstaunt, weist derartige Unterstellungen zurück und antwortet: Zara. Nach der Präsentation gab es einen kleinen Empfang im Untergeschoss der philosophischen Fakultät der École normale supérieure. Es ist eine Art Aufenthaltsraum. Ich bin froh, dass sich die Tür zum Hof nach zwei Versuchen recht leicht öffnen lässt. Den französischen Unis, selbst den grandes écoles, fehlt es an Geld. Die Canapés werden zwar kleiner, aber das Essen deshalb nicht schlechter. Und es wird immer rosbif geben, dazu wird Estragonmayonnaise serviert, Weinflaschen werden geöffnet. Ich stehe eine Stunde am Buffet, esse still vor mich hin und bin zufrieden. (mehr …)
  • Überflüssig-Werden

    Roman Widder (mehr hier) hat ein Jahr in Sibirien studiert. Die Tagung, von der er hier berichtet, fand in dieser Zeit statt. Die Bilder sind Fotografien von Landschaftsmalereien, die auf Olchon den öffentlichen Raum schmücken. Wir setzen mit dem Text unsere Begleitung des Heftschwerpunkts "Zur Lage der Universität" fort. (d. Red.) Kurz vorm Übersetzen auf die heilige Insel Olchon stiegen alle aus, um sich durch einen Schluck Wodka zu weihen. Bald nachdem die Fähre unseren Reisebus auf der Insel abgesetzt hatte, wurde die Straße zu unwegsam. Den Rest der Strecke mussten wir laufen und unsere Rollkoffer durch die sengende Hitze tragen. Am Anfang war das Grüppchen der Wissenschaftler noch eine geschlossene Gemeinschaft. Schnell aber zeigten sich die unterschiedlichen Leistungsvermögen. Auch ich legte regelmäßig Pausen ein. Einige ließen sich von Bewohnern der umliegenden Dörfer ihre Trinkflaschen mit Wasser nachfüllen. Nachdem ich im Bus die ganze Zeit geschwiegen hatte, ergab sich nun ein freundliches Gespräch mit einem ukrainischen Professor. Er versuchte mir gegenüber höflich zu bleiben, fluchte aber bereits still vor sich hin. Wenn der Atem tief wird und die Zunge langsamer, dachte ich mir, fallen eben manchmal ganz andere Wörter heraus als gewöhnlich. Am Straßenrand standen gelegentlich seltsame Schilder mit Landschaftsbildern, die Olchon und den Baikalsee zeigten. Auf und hinter den Bildern also dasselbe: Meer, Sand und Klippen, wilde Pferde und Fischgeruch. IMG_1517_b (mehr …)