• Nach der Zäsur. Versuch eines vorausschauenden Rückblicks auf die documenta 15

    . [Dies ist die Vorabveröffentlichung eines Texts, der in der Märzausgabe des Merkur, # 898, erscheint.] Unter dem Eindruck des terroristischen Massakers in Südisrael und seiner Folgen hat die hinter der Kasseler „Weltkunstschau“ documenta stehende gGmbh am 17. und 18. November 2023 ein Symposium über deren fünfzehnte Ausgabe abgehalten.[1] Im Jahr 2022 sei diese, so der Ankündigungstext, zum „Brennpunkt einer Debatte über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus“ geworden. Die Konferenz, die lange vor dem 7. Oktober vom documenta-Institut unter der Leitung des Soziologen Heinz Bude konzipiert worden war, hatte sich ursprünglich das Ziel gesetzt, von der documenta 15 aus auf ihre Nachwirkungen in Kunst, Politik und Öffentlichkeit zu schauen – man könnte also sagen: einen vorausschauenden Rückblick auf sie zu wagen. Der heute vielleicht gewagt klingende Titel der Veranstaltung: „Die documenta fifteen als Zäsur?“ (mehr …)
  • Linkskonservativer Populismus

    Die sogenannte Hufeisentheorie hat nicht nur in linken Kreisen einen schweren Stand, erscheint doch die Vorstellung, dass die Ränder des politischen Spektrums fast naturgemäß zusammenpassen, ebenso naiv wie unterkomplex. Nach den Diskussionen um Sahra Wagenknecht, die sich nicht allzu sehr daran zu stören scheint, dass sie mit ihren Friedensaufrufen und Demonstrationen auch völkische Kreise anzieht – und von rechten Zeitschriften zur Kanzlerkandidatin ausgerufen wird –,  fragen sich aber sogar manche Linke mittlerweile, ob an der These zumindest in diesem Fall nicht ausnahmsweise doch etwas dran sein könnte. Entsteht da womöglich eine neue Querfront?

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  • Generativität. Über ein Desiderat in der Philosophie

    »It is hard to speak precisely about mothering. Overwhelmed with greeting card sentiment, we have no realistic language in which to capture the ordinary /extraordinary pleasures and pains of maternal work.«

    Meine Arbeit an diesem Aufsatz wurde jäh unterbrochen, als die Pandemie mein Heimbüro um einen Privatkindergarten erweiterte. Die Lage von Eltern weltweit zeigte mir aber umso deutlicher, dass die von der Philosophie bisher kaum beachtete Frage, was Eltern eigentlich tun, aktuell ist. Denn einerseits galten Eltern plötzlich als die stillen Helden der Krise, andererseits wurde mit überraschender Selbstverständlichkeit angenommen, dass berufstätige Eltern im Homeoffice ihre Kinder nebenbei noch betreuen und beschulen können.

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  • Abschied vom Feuer

    Die Waldbrände in Brandenburg, an den Mittelmeerküsten, in Kalifornien, Australien und an anderen Orten weltweit haben das Feuer in die Medien gebracht. Und zugleich ist das wohl wichtigste langfristige Leitbild der europäischen Politik »zero emissions«, eine emissionsfreie Gesellschaft, die sozial gerecht und fair bis 2050 realisiert sein soll. Dieses Ziel bedeutet im Kern einen Abschied vom Feuer und damit ein Projekt von menschheitsgeschichtlicher Dimension, weil ein seit rund einer Million Jahre bestehender Pakt aufgelöst werden soll.

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  • Neutrale Politik

    Vor dem Strukturwandel (Teil I und II)

    Die Bundesrepublik hatte im Abstand von sechs Jahrzehnten zweimal mit einem »Strukturwandel« ihrer Öffentlichkeit zu tun. So jedenfalls Jürgen Habermas in zwei ungleichen Texten von 1962 und 2022. Sein klassisches Frühwerk traf die Lage, weil es der liberal-konservativen Rekonstruktion einer freien Zeitungs-, Medien-, Parlaments- und Regierungsöffentlichkeit in der jungen Bundesrepublik ihre nur scheinbare Offenheit vorhielt (in Wirklichkeit ist Macht, so Habermas, im refeudalisierten Sozialstaat immer schon verteilt, bevor öffentlich gesprochen wird), weil es aber gleichzeitig gegenüber der marxistischen Kritik an der Öffentlichkeit darauf bestand, dass Rede und Sprache nicht nur Teil des Überbaus, sondern Basis vernünftiger und freier Vergesellschaftung sind. Habermas’ Antwort hat es in alle Lehrbücher geschafft: Demokratische Herrschaft soll heißen: herrschaftsfreie Diskursregeln. (mehr …)

  • Nationalismus in der Zeitgeschichte

    Der 22. Oktober 2022 hätte ein hübscher Gedenktag weiblicher Emanzipation werden können. Mit Giorgia Meloni trat die erste Frau das Amt der italienischen Ministerpräsidentin an. Ihren Landsleuten galten Weiblichkeit und leadership, wie die Italiener das seit dem Tod des Duce nennen, die längste Zeit als inkommensurabel, weil die Art, wie hier Politik kommuniziert und ästhetisiert wird, männliche Gebärden begünstigt. Frauen kamen durchaus in staatstragende Positionen. Die kommunistische Spitzenpolitikerin Leonide »Nilde« Jotti machte seit 1979 als Parlamentspräsidentin vor, wie das ging. (mehr …)
  • Verschwörungsdenken und Gewalttoleranz

    I.

    Schon am Tag nach den Verhaftungen der trüben Truppe, die eine politische Ordnung à la 1871 wiederherstellen wollte, stand die Verteidigungslinie in den einschlägigen Verschwörungsjournalen: Das alles sei ja nur eine von den Medien aufgebauschte Spinnerei einiger Greise; hinter der Razzia stehe die Absicht, kurzfristig von anderen Themen abzulenken und längerfristig für schärfere Gesetze gegen »Andersdenkende« Stimmung zu machen. (mehr …)

  • Musks Twitter: Was bisher geschah

    Sink In

    »Welcome to Hell, Elon« überschrieb das Online-Magazin The Verge einen Artikel, nachdem Elon Musk am 28. Oktober 2022 Twitter dann tatsächlich gekauft hatte. Tags zuvor hatte er sich selbst zum »Chief Twit« ernannt und war mit einem Waschbecken in den Händen in die Firmenzentrale in San Francisco einmarschiert, nicht als Weltgeist zu Pferde, sondern als wandelndes Wortspiel und Möchtegern-Meme: »Let that sink in.« Donald Trump kommentierte noch am selben Tag auf seiner eigenen Social-Media-Plattform Truth Social: »I am very happy that Twitter is now in sane hands, and will no longer be run by Radical Left Lunatics and Maniacs that truly hate our country.« Ein paar Wochen später war sein nach dem Putschversuch vom 6. Januar 2020 gesperrter Account per von Musk spontan angesetzter Umfrage auf Twitter reaktiviert.

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  • Feministische Philosophie

    Die feministische Philosophie gehört zu den spannendsten und innovativsten Strömungen der gegenwärtigen Philosophie. Sie nutzt die begrifflichen und methodischen Mittel der Philosophie und wendet sie unmittelbar auf Fragestellungen an, die zumeist einen eminent politischen Charakter haben. Sie verletzt dabei selbstbewusst überkommene Unterscheidungen – etwa die zwischen praktischer und theoretischer Philosophie – und veranschaulicht ihre Überlegungen selten an bloß ausgedachten Fällen oder unter Zuhilfenahme kontrafaktischer Situationsbeschreibungen. (mehr …)
  • Die Gedächtnislücke von Suwałki

    Polnische Urlauber kochen in einem VW-Bus auf dem Parkplatz an der Grenze zu Russland einen Kaffee. Am Beginn der Lücke von Suwałki gibt es weit und breit kein Ausflugslokal. Radfahrer unterbrechen verschwitzt ihre Tour entlang der Green-Velo-Route, die durch den Osten und Norden Polens auf wenig befahrenen Straßen über Wiesen und durch Wälder führt. Eine Tafel gibt Auskunft, dass hier bis zu ihrer Unterwerfung durch den Deutschen Orden im 13. Jahrhundert baltische Stämme siedelten. (mehr …)