• Nach der Zäsur. Versuch eines vorausschauenden Rückblicks auf die documenta 15

    . [Dies ist die Vorabveröffentlichung eines Texts, der in der Märzausgabe des Merkur, # 898, erscheint.] Unter dem Eindruck des terroristischen Massakers in Südisrael und seiner Folgen hat die hinter der Kasseler „Weltkunstschau“ documenta stehende gGmbh am 17. und 18. November 2023 ein Symposium über deren fünfzehnte Ausgabe abgehalten.[1] Im Jahr 2022 sei diese, so der Ankündigungstext, zum „Brennpunkt einer Debatte über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus“ geworden. Die Konferenz, die lange vor dem 7. Oktober vom documenta-Institut unter der Leitung des Soziologen Heinz Bude konzipiert worden war, hatte sich ursprünglich das Ziel gesetzt, von der documenta 15 aus auf ihre Nachwirkungen in Kunst, Politik und Öffentlichkeit zu schauen – man könnte also sagen: einen vorausschauenden Rückblick auf sie zu wagen. Der heute vielleicht gewagt klingende Titel der Veranstaltung: „Die documenta fifteen als Zäsur?“ (mehr …)
  • Wie der (west)deutsche Film jung wurde

    Im Januar 1960 kam Fritz Lang nach Berlin. Er war zu dem Zeitpunkt siebzig Jahre alt und längst eine Legende, als einer der großen Regisseure der Weimarer Jahre, der Deutschland wegen der Nazis verlassen und in Hollywood reüssiert hatte. Allerdings war er dort zu dem Zeitpunkt seit einigen Jahren nicht mehr besonders gefragt. Darum hatte er Artur Brauners Angebot angenommen, für dessen Produktionsfirma in den CCC-Studios in Spandau noch einmal Abenteuerfilme zu drehen. (mehr …)

  • Linkskonservativer Populismus

    Die sogenannte Hufeisentheorie hat nicht nur in linken Kreisen einen schweren Stand, erscheint doch die Vorstellung, dass die Ränder des politischen Spektrums fast naturgemäß zusammenpassen, ebenso naiv wie unterkomplex. Nach den Diskussionen um Sahra Wagenknecht, die sich nicht allzu sehr daran zu stören scheint, dass sie mit ihren Friedensaufrufen und Demonstrationen auch völkische Kreise anzieht – und von rechten Zeitschriften zur Kanzlerkandidatin ausgerufen wird –,  fragen sich aber sogar manche Linke mittlerweile, ob an der These zumindest in diesem Fall nicht ausnahmsweise doch etwas dran sein könnte. Entsteht da womöglich eine neue Querfront?

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  • Generativität. Über ein Desiderat in der Philosophie

    »It is hard to speak precisely about mothering. Overwhelmed with greeting card sentiment, we have no realistic language in which to capture the ordinary /extraordinary pleasures and pains of maternal work.«

    Meine Arbeit an diesem Aufsatz wurde jäh unterbrochen, als die Pandemie mein Heimbüro um einen Privatkindergarten erweiterte. Die Lage von Eltern weltweit zeigte mir aber umso deutlicher, dass die von der Philosophie bisher kaum beachtete Frage, was Eltern eigentlich tun, aktuell ist. Denn einerseits galten Eltern plötzlich als die stillen Helden der Krise, andererseits wurde mit überraschender Selbstverständlichkeit angenommen, dass berufstätige Eltern im Homeoffice ihre Kinder nebenbei noch betreuen und beschulen können.

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  • Abgesänge. Popkolumne

    Auf die Frage, was eigentlich die kleinste Einheit von Pop ist, gibt es einige interessante Antworten: eine Geste, ein Geräusch, ein Laut, ein Sound und manch anderes mehr. Welche man für die überzeugendste hält, hängt davon ab, aus welchem Winkel man gerade auf das Phänomen blickt. Hohe Plausibilität genießt im Nachdenken über Popmusik spätestens seit den siebziger Jahren der soziologische Blick, also die Interpretation der Zeichen des Pop als gesellschaftsanalytisch aussagekräftige Entscheidungen. (mehr …)

  • Tiefe Eindrücke

    Charisma ist, ähnlich wie Pornografie, leicht zu erkennen, aber schwer zu definieren. Der (hier verkürzt zitierte) Definitionsversuch von Max Weber grenzt an eine Tautologie: »›Charisma‹ soll eine als außeralltäglich geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen Kräften oder Eigenschaften begabt gewertet wird.« Die Sozialwissenschaft kam auch später nicht viel weiter – obwohl Karriere-Coaches und Berater von Managern immer noch versuchen, Charisma auf Aspekte herunterzubrechen, die man sich aneignen könnte. (mehr …)

  • Das Kursbuch der Deutschen Bundesbahn

    Ich sitze im Walhalla mit David beim Bier. Ich will schon lange über das Bundesbahn-Kursbuch schreiben, habe aber keinen Aufhänger. Bloß darstellen, wie kurios diese Fahrpläne früher aussahen? Da erwähne ich, dass es noch bis in die 1980er Jahre hinein selbst auf Hauptstrecken mehrstündige Löcher im Fahrplan gegeben hat. Zwei bis drei Stunden kein Schnell- oder Eilzug, sechs Stunden kein Nahverkehrszug, durchaus normal. Das ist ihm neu. Und plötzlich weiß ich, wie ich es angehen kann – und warum! (mehr …)

  • Geheime Spuren

    Dass sich Technikgeschichte vor allem für das Entstehen neuer Technologien interessiert, muss man ihr nicht zum Vorwurf machen – schließlich führt die Frage nach der Technikgenese fast zwangsläufig auch zur viel unbequemeren Frage, was denn vom Neuen verdrängt worden ist. Die Produktion von technischen Einrichtungen ist auf fatale Weise an das mehr oder weniger sanfte Verschwinden von Geräten und vertrauten Verfahren gekoppelt. Ob das auch für Apparaturen des Geheimen gilt? (mehr …)

  • Warum Lueger fallen muss

    2020 war das Jahr der attackierten Statuen. Im Zuge eines neuen identitätspolitischen Antirassismus entdeckten Aktivisten die Schattenseiten der Heroen auf den Sockeln westlicher Städte. Das führte zu Szenen, wie sie der zeitgeschichtlichen Erinnerung aus Osteuropa nach dem Untergang der Sowjetunion oder aus dem Irak nach der US-Invasion geläufig sind: In Bristol brachten wütende Demonstranten die Statue des Philanthropen und Sklavenhändlers Edward Colston (1636 bis 1721) zu Fall und warfen sie ins Hafenbecken – der Auftakt zu europaweiten Appellen, auch unzähligen weiteren Rassisten und Kolonialisten aus Stein und Bronze den Garaus zu machen. (mehr …)

  • Kritik und Krawall

    Präsident Biden sei Amerikas »biggest asshole«. So hat sich vor einiger Zeit ein prominenter Landsmann öffentlich geäußert – jemand, den man (sprachlich) überall, nur nicht in der Gosse vermutet hätte.1 Wer allerdings der Hoffnung war, diesen ungenierten Ehrabschneider werde deshalb irgendein Bannstrahl treffen, sah sich getäuscht. Kein Anwalt ist in die Spur gegangen, weder von Staats noch Rechts wegen. (mehr …)